Existentielle oder existenzanalytisch orientierte Supervision versucht, die erlebende, wählen-könnende und gestalten-wollende Person in den Dialog zu bringen, ihr zu einem freien und verantwortlichen Austausch mit sich, den Anderen sowie den Anforderungen der Situation und Aufgabe zu verhelfen.
Der auf die Existenzphilosophie zurückgehende Begriff der „Existenz“ meint das dialogisch-begegnende, unaufhebbare Verwobensein mit dem „anderen“ der Welt. Der Mensch als Weltoffener ist in einem ständigen Austausch und Dialog mit sich und der Welt. Er findet sich in einer Situation, die ihn anspricht und angeht, in der er Werte spürt (Aufgaben, Beziehungen usw.), auf die zu antworten ihm offen steht. In seiner Antwort auf das, was ihn in der Situation anspricht, gestaltet er sein Sein und wirkt in die Welt. Existentiellen Sinn erlebt und verwirklicht er in der subjektiv wertvollsten Handlungs-, Einstellungs- oder Erlebnismöglichkeit in der jeweiligen Situation.
Die Person in ihrer geistigen Dimension – „das freie im Menschen“ – ist wesensmäßig offen für den Dialog mit sich (Intimität/Innenwelt) als auch mit der Außenwelt. Sie ist sich nicht ausgeliefert, sondern kann sich einen inneren Spielraum verschaffen und sich aktiv mit sich auseinandersetzen (Selbstdistanzierung). Und sie ist fähig, sich auf Anderes und Andere auszurichten und einzulassen (Selbsttranszendenz). Sie kann sich wählend, entscheidend, gestaltend Freiheit nehmen und im persönlichen Antwortgeben auf eine Situation Verantwortung leben. Die Person ist dialogisch im Wesen, erkennt, gestaltet und erfüllt sich im Dialog.
In der Reflexion sind die Dimensionen der Person, der Interaktion und der Organisation zu beleuchten. Ziel des Dialogs auf der personalen Ebene ist das Abtragen der Hindernisse zu einem geistig und emotional freien Erleben, zu authentischen Stellungnahmen und zu eigenverantwortlichem Umgang mit sich selbst, den anderen und der gestellten Aufgabe. Supervision ist dem Zweck nach keine Selbsterfahrung. Sie entzieht den aktuellen Leistungsprozessen personelle und finanzielle Ressourcen, um einen nachhaltigen Mehrwert zurückzuspeisen. Sie involviert den Menschen in seiner Ganzheit – nicht um im Sinne seiner Funktionalisierung mehr aus ihm herauszubekommen, sondern, damit er sich selbst in seiner Potentialität erlebbar und in freier Entschiedenheit verfügbar ist. Um die Abgrenzung zur Selbsterfahrung deutlich zu machen, ist eine ständige Bezugnahme zur Aufgabe, zum Organisationsziel und zu den darin auffindbaren Werten herzustellen.
Im Folgenden möchte ich das erst kürzlich publizierte Konzept für existenzanalytische Teamsupervision von Liselotte Tutsch – meiner geschätzten Lehrerin im Feld der Psychotherapie - in einer subjektiven Zusammenfassung skizzieren (Tutsch 2001). Zur besseren Lesbarkeit sehe ich von exakter Zitierweise ab und übernehme die Verantwortung für entstehende Ungenauigkeiten oder Verfälschungen.
Tutsch unterscheidet die Aufgaben des Supervisors in Prozessaufgaben (moving), Funktionsaufgaben (leading) und Rahmenaufgaben (holding).
Prozessaufgaben betreffen Interventionen zur Unterstützung der inhaltlichen Arbeit: thematische Strukturierung, Nähe zum Thema herstellen (Emotionalität) und sich aus Verstrickungen lösen (Sachlichkeit), Komplexität auf Wesentliches hin vereinfachen (Stellungnahmen einfordern), die Vielfalt der Beiträge auf die gemeinsame Fragestellung ausrichten und auf Umsetzbarkeit in der weiteren Arbeit überprüfen.
Funktionsaufgaben betreffen die Leitungsverantwortung für den Prozeß der gemeinsamen Reflektion mit entsprechendem Angebot hilfreicher Methoden und Arbeitsmittel.
Rahmenaufgaben betreffen Haltungen und Interventionen, die das Arbeitsklima fördern. Die Stichworte dazu: Raum, Halt und Schutz, Atmosphäre/Klima, wertschätzender Umgangsstil und Wertorientierung.
Tutsch bezieht sich auf die existenzanalytische Prozesstheorie (Personale Existenzanalyse, Längle 2000) für die Entwicklung einer Methodik der inhaltlichen Bearbeitung einer Fragestellung im Team und auf die existenzanalytische Strukturtheorie (Grundmotivationen, Längle 1992) für Verständnis und Bearbeitung der Gruppendynamik in der Supervision.
In Anlehnung an die existenzanalytische Prozesstheorie, die den Menschen in seiner Offenheit, Selektivität und Interaktivität beschreibt, als ansprechbar im Eindruck, wählend in der Stellungnahme und Antwort gebend in seinem Handeln, entwickelt sie ein methodisches Vorgehen in der Bearbeitung eines Supervisionsthemas in folgenden Schritten:
1. Thema (Fragestellung): Fragestellung und Anliegen im eingebrachten Thema präzisieren (zur Vermeidung ziellosen Herumsupervidierens)
2. Was ist? (Problembeschreibung): sachliche und detailreiche Beschreibung der Situation (Vielfalt der Sichtweisen, Überblick über das Faktische gewinnen)
3. Wie ist es? (Problemauswirkung): Wie erlebe ich es gefühlsmäßig? Wie spürt es sich an? (Emotionalität, subjektives Erleben, Nähe, Bewegtheit, Vielfalt des Erlebens) Was bedeutet es? In welcher Beziehung stehe ich dazu? (Betroffenheit, Differenzierung von Übertragungsanteilen aus der aktuellen Beziehung, Unterschiedlichkeit aushalten)
4. Worum geht es? (Problemdefinition): Worum geht es im Grunde? Was ist der Kern des Problems? (Reduktion auf Wesentliches; Widersprüche werden nicht eliminiert, sondern nebeneinander- und zusammengestellt)
5. Mein/unser Standort? (Stellungnahme zum Problem): Wie stehe ich zu dem, was wir als Wesentliches gefunden haben? Was ist meine Position hinsichtlich der Fragestellung? (subjektive Stimmigkeit, Unterschiedlichkeit als Möglichkeitsraum, Integration der Unterschiedlichkeit durch Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, auf gemeinsame Werte)
6. Was tun? (Problemlösung/Entscheidung): Lösungsmöglichkeiten und Konsequenzen erheben und beschließen
7. Wie tun? (Problemlösung/Umsetzung): Mittel und Wege suchen und unterstützen
Lebendigkeit und Dichte in der inhaltlichen Arbeit entstehen, wenn das Thema innerlich bewegt. Um sich aber in Beziehung zum Thema spüren zu können, braucht es Raum, Zeit, Nähe. Diese entsteht, wenn wir der Spur des eigenen Erlebens folgen, wirken lassen, auftauchen lassen, was in unserem Bewußtseinsraum, im Fühlen und Empfinden daherkommt.
Wird aus dem Bewegt- und Beteiligt-Sein jedoch ein Bewegt-Werden und Ausgeliefert-Sein an die Affekte, so schaffen wir Gestaltungsraum durch Fokussierung auf Sachlichkeit. Im gemeinsamen Wahrnehmen dieser Steuerungsaufgaben – die im Rahmen der Supervision gut vermittelbar sind – entsteht eine Gesprächskultur im Team, in der die Personen nicht nur vorkommen dürfen, sondern unentbehrlich werden (unentbehrlich für die Qualität der inhaltlichen Auseinandersetzung im Hier und Jetzt, nicht jedoch – zur Erinnerung - unersetzlich für die Organisation im Hinblick auf ihre Funktion).
Die existenzanalytische Strukturtheorie bildet den Hintergrund für Verständnis und Bearbeitung der Gruppendynamik in der existenzanalytischen Teamsupervision. Sie beschreibt – zunächst für die Person – vier menschliche Grundverfasstheiten, die existentielles (d. h. personal entschiedenes, dialogisch-begegnendes) Handeln ermöglichen:
1. sein zu können („Ja zur Welt“, Grundvertrauen, Sicherheit): Raum Schutz, Halt, angenommen sein und annehmen können
2. leben zu mögen („Ja zum Leben“, Grundwert, Emotionalität): Nähe, Zeit, Beziehung, bewegt sein und mich zuwenden
3. selbst sein zu dürfen („Ja zum Personsein“, Selbstwert, Identität): Abgrenzung, Individualität, Wertschätzung, gesehen werden und wertschätzen, Stellung nehmen und anerkennen
4. Sinnvolles zu wollen („Ja zum Sinn“, Weltoffenheit, Existenzialität): Situation als Anfrage, Leben als Antwort, Verwirklichen von Werten
Der Reifungsgrad der einzelnen Teammitglieder, die aktuelle Situation, in der sie stehen, die Entwicklungsgeschichte und aktuelle Situation des Teams, das Aufgabenfeld und die Klientendynamik, die Organisation, ihre Ziele, Strukturen und Kultur – all das wirkt auf das Team und prägt seinen Charakter. In Anlehnung an die vier Grundmotivationen der existenzanalytischen Strukturtheorie charakterisiert Tutsch Teams – im defizienten Modus - als tendenziell:
1. ängstliche Gruppe: zeigt sich vorsichtig, Konflikte oder Differenzen vermeidend oder unterdrückend, nach (Pseudo-)Harmonie strebend
2. depressive Gruppe: schwer, träge, kommt leicht in einen Stillstand, Assoziationen fließen nicht, abhängig von Vorgaben des Supervisors
3. histrionische Gruppe: unruhig, überdreht, hochdynamisch und handlungsbetont, oft angriffslustig und auf Wahrung des eigenen Reviers bedacht, Rivalität und Empörung spielen eine dominierende Rolle
4. orientierungslose Gruppe: Sammelsurium von Standpunkten, Meinungen, Konzepten, verliert leicht die Sache aus den Augen
Entsprechend empfiehlt sie ausgleichende und gegensteuernde Interventionen im Bereich:
1. ängstliche Gruppe: Halt, Struktur, Vertrauen
2. depressive Gruppe: Emotionalität, Aktivität, Bewegung
3. histrionische Gruppe: Sachlichkeit, Stellungnahme
4. orientierungslose Gruppe: Sachbezogenheit
Zu beachten ist der Phasenverlaufs einer Supervision – im kleinen Bogen in einer Sitzung als auch im großen Bogen der Zusammenarbeit: Zueinanderfinden, miteinander in Bewegung kommen, wieder zur Ruhe kommen, abschließen.
Ihr Credo: "Auseinandersetzung und optimales Zusammenwirken geschieht durch maximales Personsein." (Tutsch 2001, S. 44)
Will ich als Supervisor den Dialog der Teammitglieder untereinander anregen und Steuerungsaufgaben im Sinne der Teamentwicklung nur sparsam wahrnehmen, so werde ich Impulse in die skizzierte Richtung geben, den Prozess aber nicht strikt danach auszurichten versuchen. Oft wird es genügen, die Aufmerksamkeit und Interventionen auf zwei Aspekte zu richten:
1. Entschleunigung, um genau hinschauen zu können
2. Das Sichtbarwerden der Personen in der Stellungnahme
Dialog der Teammitglieder untereinander entsteht, wenn jeder gleichwertig Raum hat, sich einzubringen. Dies erfordert seitens des Supervisors kein entmündigendes An-der-Hand-Nehmen der Stillen, sondern ein Raum-Schaffen, das zugleich ermutigt als auch herausfordert; kein ständiges Einbremsen der Dominanten, sondern ein Ansprechen der Dynamik, Erheben der Wirkung auf der Beziehungs- und Sachebene und Übergeben der Selbstbeobachtung in die Eigenverantwortung der Person.
Indem der Supervisor als Person sichtbar wird (Emotionalität, Stellungnahme, Werthaltungen), kann er modellhaft zu einer Atmosphäre beitragen, in der sowohl Nähe, Vertrautheit entsteht als auch befreiendes Für-sich-Sein und Für-sich- und Für-etwas-Einstehen in der unaufhebbaren Differenz von Ich und Du und Wir und Aufgabe.
zitierte Literatur:
Tutsch, Liselotte (2001): Existenzanalytische Teamsupervision – Ein Konzept; in: Zeitschrift Existenzanalyse 18/2+3, S. 31-44; Wien 2001
© Stefan Pfanner 2001