Der Geschmack der Freiheit in der Reflexion – offenes Denken im Hier und Jetzt

Reflexion bedeutet ein Zurückbeugen des Denkens auf Vergangenes. Doch nur wenn Vergangenes gegenwärtig wird – sinnlich, emotional und geistig -, kann sich Denken im Hier und Jetzt neu der Erfahrung stellen. In der Vergegenwärtigung kann verborgen Gebliebenes entdeckt werden und zu neuen Sichtweisen und Wertungen führen. Wenn uns gelingt, Vorurteile, vorschnelle Schlüsse, Verzerrungen unserer Wahrnehmungen durch Lust-, Unlust- und Nützlichkeitsfilter vom Faktischen zu lösen, so kommen wir zu einem brauchbaren Rohstoff für wirklichkeitsnahe Erkenntnis. 

In einem Gespräch in der Haltung des Dialogs entsteht zunächst ein offener Raum des Frei-Seins vom Funktionieren-Müssen, in dem auftauchen kann, was ansteht und in der Tiefe bewegt. Im Innehalten können wir die Bewegung unseres Denkens wahrnehmen. Um klar zu sehen, muss der Geist zuerst ruhig sein, ohne inneres Geschwätz. Dann lässt sich der Beginn des Denkens beobachten. „Das Ideal der wissenschaftlichen Beobachtung des Wirklichen wäre also eine Art kontrollierter Trancezustand oder besser noch: eine Art Geschwindigkeitskontrolle des Bewusstseins.“ (Virilio 1986, S. 34) 

Angekommen in dieser bewusst verlangsamten Zeit geht es ums Beginnen in der Haltung des Teilen-Wollens von Erfahrungen und Lernen. Unfertiges in den Austausch zu bringen ermöglicht Anknüpfungen, Erweiterungen, das Reiben an Sperrigem. Es lädt ein zum gemeinsamen Erkunden. Oft ist das Unfertige, Widersprüchliche, Verzerrte, der Irrtum denknotwendig. Im Irrtum können – vermengt und nur implizit, aber dennoch – schon Elemente vorhanden sein, die sich in neue Erkenntnis auflösen lassen.

„Zu Beginn der Arbeit dürfte ich vor allem nicht vergessen, mich auf den Irrtum vorzubereiten. Ich dürfte nicht vergessen, dass der Irrtum oftmals ein Weg für mich gewesen war. Ein jedes Mal, wenn das, was ich dachte oder fühlte, nicht zutraf, tat sich am Ende ein Weg auf, und wenn ich vorher den Mut aufgebracht hätte, wäre ich ihn bereits gegangen. Aber ich hatte immer schon Angst vor Delirium und Irrtum. Mein Irrtum indessen musste der Weg einer Wahrheit sein: denn nur wenn ich irre, gehe ich über das hinaus, was ich kenne und was ich verstehe. Wenn die ’Wahrheit‘ dem entspräche, was ich verstehen kann – wäre sie am Ende nur eine kleine Wahrheit, eine in meiner Größe.“ (Lispector 1990, S. 91 f.)

Mich zu irren, mein unfertiges Denken öffentlich zu machen, mich in dem zu zeigen, was mich bewegt, obwohl ich es noch nicht verstehe ... gehört zum Wagnis des Lernens. Es geht darum, Ereignisse zuzulassen, die mir widersprechen, die meinem seelischen oder geistigen Status Quo widersprechen, mich irritieren, verunsichern, verstören und dadurch Veränderung notwendig machen. Dialoge haben die Qualität dieser hilfreichen Verstörung, wenn Annahmen und Wertvorstellungen, die in meine Identitätsvorstellung, mein Rollenverständnis, mein Selbstbild eingebaut waren, so angefragt werden, dass sie ins Wanken geraten. Es geht um den Schritt über die Schwelle der Ängste, die auf notwendige Entwicklungsschritte verweisen. Verunsicherung und Verwirrung gehören zum kreativen Potential für Veränderung.

„Die Freiheit, eine neue Möglichkeit zu entdecken, bedingt ein Noch-nicht-Wissen und ein Sich-dennoch-Trauen, etwas zu finden durch ein Sich-Einlassen in einer unsicher scheinenden Wirklichkeit. Wenn wir zu früh verstehen, zu früh eine Erklärung annehmen oder selber finden, nehmen wir uns die Chance, neues Land zu betreten und etwas zu finden, was über dem Gesuchten liegt.“ (Pechtl 2001, S. 27)

Ängste, Konflikte, Widersprüche aus der Enge der Innerlichkeit freizulassen, auszudrücken, in den Dialog zu bringen, schafft etwas von mir Verschiedenes, dem ich wieder gegenübertreten, das ich erkunden und zu dem ich mich so oder anders stellen kann. Ich kann mich innerlich lösen, weil sie im Dialog aufgehoben sind. Und ich kann mich beschenken lassen durch alternative Sichtweisen, andere Sinnkonstruktionen, Teilnahme und Teilhabe an der Belebung im Austausch.

Dialog ist kein Ort der Wahrheitssuche. Es gibt nichts, was wir als Wahrheit in Besitz nehmen und gegen Anfragen verteidigen könnten. Wirklichkeit ist im Grunde aus momenthaften Intensitäten gewoben. Im Dialog können wir unsere Wahrnehmung verfeinern, unsere Erkundungs- und Ausdrucksfähigkeiten fördern und lernen, in alternativen Möglichkeiten zu denken. „Diskurse sind keine Objektkenntnisse, sondern Aktionen, Werke, die Energie einfangen und verteilen.“ (Lyotard 1978, S. 12) 

Denken ist ein offener Erfahrungsprozess. Wir erfahren uns dabei ebenso wie die Phänomene, denen wir uns zuwenden. Denken führt in Möglichkeitsräume. Es bindet nicht an Zeit und Raum der phänomenalen Welt. Vergangenes kann vergegenwärtigt und Gegenwärtiges, unmittelbar Erfahrenes aus dem All-zu-Nahen in eine Distanz gebracht werden, aus der Sehen möglich wird. Der Raum der Selbstbezogenheit kann überschritten und Perspektiven können gewechselt werden. Führt dieses offene Denken in die Beliebigkeit? „Gegen das Risiko des Abgleitens ins Beliebige ist der offene Gedanke ungeschützt; nichts verbrieft ihm, ob er hinlänglich mit der Sache sich gesättigt hat, um jenes Risiko zu überstehen.“ (Adorno 1996, S. 43) 

Umso wichtiger ist, dem nachzugehen, worauf der Gedanke gründet, auf welche Erfahrungen und Informationen er sich bezieht, welches unser Begehren und Interesse darin ist, welcher Gestimmtheit er entspringt. Nyanaponika, ein buddhistischer Mönch, schreibt von der Wirksamkeit des Innehaltens und der anhalten Achtsamkeit in der - von Vorannahmen, Vorwissen und Interessen freigehaltenen - Beobachtung von Situationen und Gegebenheiten:

  1. „Ein Gegenstand innehaltender und anhaltender Achtsamkeit wird einen starken und lang währenden Eindruck hinterlassen, nicht nur auf die der jeweiligen Wahrnehmung folgende Gedankenserie, sondern auch in die Zukunft hinein. Es ist diese Wirkungskraft von deutlichen Wahrnehmungen und klaren Gedanken, die der Maßstab für den Intensitätsgrad des Bewusstseins ist.

  2. Flüchtige Wahrnehmungen oder Erwägungen werden nur den ersten Eindruck oder nur den für den Ichbezug wichtigen erfassen und lassen viele Aspekte des Objektes unbeachtet oder unklar. Dies hat zur Folge, dass das Gesamtbild des materiellen oder geistigen Objekts fragmentarisch oder verschwommen bleibt. Die innehaltende und anhaltende Achtsamkeit aber ergibt ein deutliches und umfassendes Bild des Gegenstandes und erzieht so zu einer wachsenden Klarheit der Bewusstseinsfunktion.

  3. Wenn das Gesamtbild des Objekts klar und umfassend ist, so wird es auch in seiner reichen Beziehungsvielfalt erscheinen. In künstlicher Isolierung kann ein Objekt nie ganz verstanden werden, sondern nur, wenn es als Teil eines Gefüges in seiner bedingten und bedingenden Natur begriffen wird. (...) Es ist der Sinn für den Beziehungsreichtum von Dingen, Ideen und Situationen, der, über das rein Analytische hinaus, zu einer Verfeinerung der Bewusstseinsqualität und zur Stärkung seines schöpferischen Vermögens führt.

  4. Das beobachtende Innehalten zeigt dem Menschen Wahlfreiheiten, die er nicht sehen kann, wenn er von Impulsen getrieben oder durch Vorurteile beeinflusst ist.“ (Nyanaponika 1979, S. 141 f.)

Hat ein Denkprozess eine Fülle von Grundlagen dieser Qualität, wird er nicht so leicht ins Beliebige abgleiten. Die Grundhaltung und Methode ist der phänomenologischen Haltung verwandt – ein Sich-Einlassen auf die Phänomene, ein Ablassen von Vorurteilen und Vorwissen, ein Beiseite-Stellen der eigenen Interessen im Erkennen. Ein in Ruhe geführter kollegialer Austausch, die gegenseitige Erkundung und gemeinsame Überprüfung des Denkens sind Strategien gegen das Abgleiten des offenen Denkens ins Beliebige. 

Denken öffnet sich, wenn sich der Denkende als Bezugspunkt vergisst. Dialoge brauchen nicht nur das deutliche Sichtbarwerden der Personen, sondern auch ein gewisses Selbst-Vergessen – das Zurücklassen des Sich-Schützens und Sich-Präsentierens im Austausch.

„Es braucht die trainierte Fähigkeit, sich auf Unbekanntes einzulassen, ohne es zu rasch in Vertrautes verwandeln zu müssen, die Fähigkeit, alles Wissen immer wieder über den Haufen zu werfen, um Neues zu entwickeln.“ (Buchinger 1997, S. 150)

Unmittelbar zu denken, bedeutet nicht, bar jeglicher Denkbezüge, bar jeglichen Wissens zu sein. Es heißt nur, auf deren gewohnheitsmäßige Verwendung zu verzichten und uns der Konfrontation mit dem Jetzt als Erfahrung zu stellen.

Reflexion ist kein strategisches Handeln, um ein antizipiertes Ziel zu erreichen. Lebendige Reflexion muss nicht schon wissen, was jetzt anders zu tun ist. Sie verändert die Modi der Wahrnehmung, des Empfindens, Fühlens und Denkens. Verändertes, veränderndes Handeln folgt dann von selbst.

„Die Reflexionsbereitschaft ist ein nachgreifendes Akzeptieren von Gewesenem und ein vorausschauendes Aktivieren von Kräften für die Zukunft.“ (Pechtl 2001, S. 220) Sich darin gegenseitig zu unterstützen, herauszufordern und zu bereichern, ist die Chance des Dialogs im Team.

zitierte Literatur:

Adorno, Theodor W. (1996): Negative Dialektik; Bd. 6 der gesammelten Schriften; Frankfurt a. M. 1996
Buchinger, Kurt (1997): Supervision in Organisationen. Den Wandel begleiten; Heidelberg 1997
Lispector, Clarice (1990): Die Passion nach G. H.; Frankfurt a. M. 1990
Lyotard, Francois (1978): Intensitäten; Berlin 1978
Nyanaponika (1979): Geistestraining durch Achtsamkeit. Die buddhistische Satipatthana-Methode; Konstanz 1979
Pechtl, Waldefried (2001): Zwischen Organismus und Organisation: Wegweiser und Modelle für Berater und Führungskräfte; 4. Auflage, Wien 2001
Virilio, Paul (1986): Ästhetik des Verschwindens; Berlin 1986

© Stefan Pfanner 2001