Die phänomenologische Haltung

Innerlich leer werden, wach und empfangsbereit, erfahren, was sich ereignet, mich aus der Erfahrung des Anderen herausfiltern und hinspürend, mitfühlend tatsächlich etwas vom Andern empfangen, erfahren, erkennen ...

Um im Dialog von den Etiketten zu den Inhalten, vom alltäglich Sichtbaren zum Darunterliegenden, von Vorannahmen zu einer Sichtweise zu kommen, die der Sache, Person und Situation in ihrem So-Sein soweit als möglich entspricht, müssen wir eine besondere Achtsamkeit pflegen.

Wenn wir auf theoriegeleitetes, interpretatives Vorgehen zunächst verzichten, haben wir größere Chancen, auf Unerwartetes und Neues zu stoßen und in einer Weise verstört, überrascht, berührt zu werden, dass Lernen passiert.

Im phänomenologischen Erkenntnisprozess werden Vorannahmen und Vorwissen beiseite gestellt, um sehen zu können, was sich zeigt. In der Untersuchung menschlicher und zwischenmenschlicher Phänomene wird der Mensch nicht in Analogie zu nicht-menschlichen Phänomenen betrachtet, sondern in seinem Subjektcharakter und in der Gestaltungsmöglichkeit seiner Zukunft gesehen. Intersubjektive Gültigkeit einer Erkenntnis braucht das Gespräch. 

Im Folgenden beziehe ich mich auf eine phänomenologische Haltung, wie sie u. a. von Heidegger, Husserl, Jaspers vertreten wurde (zusammengefasst aus: Bukovski 2000, Vetter 1989).

Der Phänomenologische Dreischritt in Anlehnung an Martin Heidegger:

1. Phänomenologische Reduktion

Hinführung in eine Voraussetzungslosigkeit, die öffnet für ein Sehen dessen, was sich von der Sache/Situation selbst her zeigt. Dazu bedarf es der Zurückstellung des Vorwissens, der Vorerfahrungen, Vorurteile, Vorstellungen hin zur Haltung „Ich weiß nichts“ (Lösung von allen thematischen Gegebenheiten) wie der Zurückstellung der Interessen, Absichten und Selbstbezogenheiten hin zur Haltung „Ich will nichts“ (Lösung von allen Intentionalitäten).

2. Phänomenologische Destruktion

Infragestellung alles Selbstverständlichen, Hinterfragen aller Annahmen, die mir eine Sache/Situation als schon verstanden erscheinen lassen - mit der wiederholten Frage „Ist es wirklich so?“.

Infragestellung dessen, wie sich die Sache/Person präsentiert, erklärt, was sich schon als Antwort anbietet - Einklammerung all dessen, Beiseitestellen, unabgelenkt wirken lassen.

3. Phänomenologische Konstruktion

Was zeigt sich, wie zeigt es sich von sich selbst her, wie wirkt es auf mich, womit hängt es zusammen, was hat mich unerwartet erreicht, was verstehe ich jetzt? Dieses Verstehen, das immer nur ein vorläufiges, vorübergehendes Verstehen sein kann, kann nicht gemacht werden. Es ereignet sich oder ereignet sich nicht. Wenn die Eindrücke und Bezüge zusammenfallen im Gefühl des Verstehens, im „aha“, hat mich womöglich etwas von dem erreicht, was ist und worum es geht. Neues Wissen entsteht.

Es bedarf des Einlassens auf die Phänomene und des Ablassens von den eigenen Vorurteilen. Aus diesem zweifachen Lassen entsteht Gelassenheit, die zugleich entschiedene Anteilnahme ist. Zur Haltung der Gelassenheit gehört das Sich-Zeit-Lassen und das Zeit-Geben.

Wahrnehmung in einer phänomenologischen Haltung geschieht am subjektiven Erleben. Wesentliches lässt sich nur im subjektiven, wertempfindenden Erleben erfassen. Als Wahrnehmender bin ich in meinen Wahrnehmungen aber auch selbst enthalten. Wenn ich mich nicht kenne (meine Eigen-Art), kann ich mich nicht vom Erlebten subtrahieren (einklammern). Um offen zu sein für das, was sich vom Phänomen her zeigt, muss ich beiseite stellen und einklammern, was sich einmischt, was aus meiner Geschichte, aus meinen Vorerfahrungen auftaucht. Epochein: Die Hand drauf legen. Die Frage: Was hat es mit mir zu tun, was hereinkommt?

Mich im Erkennen-Wollen beschränken auf das, was sich zeigt, wie es sich zeigt, wie es mich erreicht. Und wenn ich schon glaube, zu verstehen, erneut die Frage: Ist es so?

Phänomenologisches Erkennen braucht Gelassenheit, Zeit, eine Balance von Fokussierung und schwebender Aufmerksamkeit, wache Sinne, ein feines Gespür, eine ruhige, klare Bewusstheit, die Offenheit, mich überraschen lassen zu wollen, die Bereitschaft, mich in Frage stellen zu lassen, das Vertrauen, dass sich schon zeigen wird, was ist und worum es geht,  wenn ich wirklich hinschaue. Im Schauen sehe ich etwas vom anderen, von der Beziehung, von mir. Und nie die „Wahrheit“. Wahrheit ist das Ende des Dialogs.

verwendete Literatur:

Bukovski, Renate (2000): unveröffentl. Skriptum zur Existenzanalyse und Logotherapie; Frankenburg 2000
Vetter
, Helmuth (1989): Die phänomenologische Haltung; in: Selbstbild und Weltsicht, Tagungsbericht der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse; Wien 1989

© Stefan Pfanner 2001